Eine repräsentative Studie, die 2007 vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG und vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO durchgeführt worden ist, hat aufgezeigt, dass eine von zwei Personen in der Schweiz mindestens einmal in ihrem Berufsleben und eine Person von drei in den letzten 12 Monaten Opfer einer Form von sexueller Belästigung geworden ist. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Momentan führt die Universität Lausanne eine landesweite Befragung zu diesem Thema durch. Ihre ersten Ergebnisse zeigen, dass 18 Prozent der Westschweizerinnen an ihrem Arbeitsplatz schon einmal sexuell belästigt wurden gegenüber 7 Prozent bei den Männern (Le matin dimanche, 15. April 2012).
Viele Frauen sehen sich mit diesem Problem konfrontiert, unabhängig von ihrer Stellung, ihrer Nationalität, ihrem Zivilstand. Auch eine Schwangerschaft schützt nicht vor sexueller Belästigung.
Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz stellt eine schwerwiegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmerin bzw. des Arbeitnehmers dar. Sie verstösst gegen die Persönlichkeitsrechte im Bereich der sexuellen Freiheit, zu der auch das Recht auf den Schutz der Privatsphäre gehört.
Zudem ist sie eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, die nicht nur durch das Gleichstellungsgesetz explizit verboten ist (Art. 4 GlG), sondern ebenso gemäss dem neuen Art. 328 Abs.1 2. Satz OR, der am 1. Juli 2006 nach der Einführung des Gleichstellungsgesetzes geändert wurde.
Definition des Rechtsbegriffs
Diskriminierend ist jedes belästigende Verhalten sexueller Natur oder ein anderes Verhalten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das die Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz beeinträchtigt. Darunter fallen insbesondere Drohungen, das Versprechen von Vorteilen, das Auferlegen von Zwang und das Ausüben von Druck zum Erlangen eines Entgegenkommens sexueller Art. (Art. 4 GlG).
Das Bundesgericht definiert den Begriff umfassender als das Gesetz in dem Sinne, als es auch alle Verhaltungsweisen dazu zählt, die ein feindliches Klima schaffen, und nicht nur jene, die dazu dienen, ein Entgegenkommen sexueller Art zu erlangen (BGE 4C.463/1999 Erw. 7 vom 4. Juli 2000, publiziert in BGE 126 III 395).
Üblicherweise wird eine sexuelle Belästigung ausgeübt, um das Arbeitsklima zu vergiften: Das Opfer wird nicht direkt zu sexuellen Handlungen gezwungen, aber es wird durch anzügliche Bemerkungen, unangebrachtes Verhalten usw. belästigt. Die Sexualität wird als Mittel zur Provokation, Erniedrigung und Zerstörung eines Menschen verwendet (Urteil der Beschwerdekammer des Kantonsgerichts Waadt, publiziert in «Le Temps» vom 20 Januar 2000).
Das Gleichstellungsgesetz verbietet jegliche Form der sexuellen Belästigung, von der leichtesten (Erzählen von anzüglichen Witzen, Bemerkungen zum Aussehen, Vorzeigen gewisser Bilder, sexuelle Avancen, unangebrachte Gesten usw.) bis hin zur schwerwiegendsten Form (Drohungen, Erpressung, Vergewaltigung) (Art. 4 GlG).
Straftatbestand
Seit 1990 verbietet das Strafgesetzbuch die schwersten Formen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz (Art. 193 StGB).
Art. 193 StGB: Ausnützung der Notlage: Wer eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder eine in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Weitere strafrechtliche Bestimmungen können ebenfalls in Betracht gezogen werden, und zwar je nach Situation. In Frage kommen Art. 219 StGB: Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht; Art. 188 StGB: Sexuelle Handlungen mit Abhängigen; Art. 191 StGB: Schändung; Art. 197 StGB: Pornographie; Art. 198 StGB: Übertretungen gegen die sexuelle Integrität.
Klagemöglichkeiten
Die Klagemöglichkeiten sind die gleichen wie jene bei Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, auf die weiter oben bereits eingegangen wurde. Die sexuelle Belästigung wird jedoch hinsichtlich der Beweislast und der Entschädigung anders behandelt (Art. 5 Abs. 2 und 3 sowie Art. 6 GlG). Ein Opfer von sexueller Belästigung kommt nicht in den Genuss einer Beweislasterleichterung. Der Übergriff muss gemäss den üblichen Regeln von Art. 8 ZGB bewiesen werden. Was die Entschädigung anbelangt, so kann das Opfer eine solche vom Arbeitgeber fordern, auch wenn dieser nicht persönlich für die Belästigung verantwortlich war. Letzterer ist nämlich dazu verpflichtet, in seinem Unternehmen sexuelle Belästigungen zu verhindern oder dafür zu sorgen, dass diese aufhören. Er kann sich nur gegen eine Entschädigungsforderung wehren, wenn er beweist, dass er seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen ist und alle Massnahmen ergriffen hat, die aufgrund der jeweiligen Situation notwendig waren.
Das Opfer kann auf der Grundlage von Art. 328 OR sowie Art. 27 und 28 ZGB den Arbeitgeber sowie auf der Grundlage von Art. 41ff OR (widerrechtliche Handlung) den Verursacher der Belästigung auf Schadenersatz verklagen. Die sexuelle Belästigung kann zudem zu einer Anzeige beim kantonalen Arbeitsinspektorat führen, weil das Arbeitsgesetz den Arbeitgeber dazu verpflichtet, die Gesundheit des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin zu schützen (Art. 6 GlG).